… oder „was Gutes tun wollen“ kann doch nicht schaden? Oder doch?

Lassen Sie mich hierzu mit einer Geschichte beginnen:

Eine ältere Dame steht auf dem Gehsteig. Sie hat zwei Einkaufstauschen in den Händen. Ihr Blick schweift langsam nach rechts und dann nach links.
Ein junger Mann nähert sich von rechts hinten, hakt sich ungefragt bei der Dame ein und zieht sie auf die Straße. Die Dame wehrt sich, versucht sich loszumachen und ruft: „Nein“ „Lassen Sie mich.“
In der Mitte der Straße sagt der Mann: „Ich bringe Sie über die Straße.“ Die Dame ruft weiter: „Nein“ und „Lassen Sie mich los“.
Auf der anderen Straßenseite dreht sich der Mann zur Frau um, sagt: „Gern geschehen. Aber Sie hätten sich gar nicht so zu wehren brauchen. Hilfe anzunehmen ist keine Schande.“
Die Frau dreht sich um, schaut hektisch links, rechts, links, passt eine Lücke im Verkehr ab und hastet über die Straße.
Von ihrem Bus sieht sie nur noch die Rücklichter…
Resigniert setzt sie sich in das Buswartehäuschen.
Der nächste Bus soll in einer Stunde kommen. Sie wartet.
Es fängt an zu regnen. Es schüttet. Es stürmt.
Das Bushäuschen bietet wenig Schutz, die Dame wird komplett nass.
Die Stunde vergeht. Der Bus kommt – mit einiger Verspätung, aber er ist da.
Erleichtert steigt die Dame ein. Die Fahrt dauert nur 20 Minuten. Bald ist sie daheim.
Noch im Bus beginnt sie zu niesen.
Zuhause schleppt sie sich die Stufen zu ihrer Wohnung hinauf. Ihr geht es immer schlechter. Sie hat Fieber. Die Einkaufstauschen stellt sie einfach ab und geht sofort ins Bett. Sie hat sich eine fiebrige Erkältung eingefangen.
Der junge Mann derweil fühlt sich gut. Er hat ja geholfen. Am Abend erzählt er seine Version der Geschichte seinen Freunden und auch, dass sich die Dame so gesträubt hat, seine Hilfe anzunehmen.
Auf die Idee, dass seine ungefragte Hilfe übergriffig und unangemessen und gar keine Hilfe war, kommt er gar nicht.

Im Alltag kann es schnell passieren, dass aus unterschiedlichen Perspektiven und unterschiedlichen Wahrnehmungen Missverständnisse entstehen.
Hilfe aufzudrängen aus der Haltung heraus, die eigene Wahrnehmung über die einer anderen Person zu stellen, ist übergriffig.
Es werden Fragen übergangen wie:
* Benötigt die andere Person Hilfe? Oder interpretiere ich das nur aus meiner Wahrnehmung?
* Möchte die andere Person Hilfe oder nicht?
* Möchte sie diese Situation/Herausforderung alleine meistern?
* Möchte sie diese Art von Hilfe oder ist genau das keine Hilfe für die andere Person?

Um auf die eingangs gestellte Frage zurückzukommen:
Ja, ungefragte Hilfe oder „was Gutes tun wollen“ kann Schaden anrichten.

Ist es dann keine gute Idee Hilfe anzubieten?
Hilfe anzubieten ist immer eine gute Idee. Wichtig ist dabei jedoch, folgendes im Blick zu behalten:
* Es sollte ein Angebot sein, dass die andere Person auch ablehnen kann.
* Es sollte im Dialog geklärt werden: Möchte die Person Hilfe? Welche Art von Hilfe? Kann ich das leisten? Bin ich bereit, diese Hilfe zu leisten? Was kann ich als Hilfe anbieten?
Noch besser ist es zu fragen: „Brauchen Sie Hilfe?“ Und: „Wie kann ich helfen/unterstützen?“.

Beim Thema Hilfe anbieten ist es auch immer günstig, sich selbst zu hinterfragen:
Warum biete ich Hilfe an?
* Aus einem eigenen unerfüllten Bedürfnis heraus, z.B. sich wichtig und nützlich fühlen zu wollen?
* oder die andere Person wirklich unterstützen zu wollen?

Das Thema „Helfen“ kann ein sehr komplexes Thema sein, da unterschiedliche Bedürfnisse, Wahrnehmungen und Perspektiven beteiligt sind.
Besonders in der Begleitung von Kindern kann es vorkommen, dass wohlmeinende Erwachsene Kindern „schnell“ helfen wollen, sei es
* beim Anziehen – dann geht es schneller –
* oder wenn ein Kind hingefallen ist, wird es „schnell“ wieder auf die Beine stellen, damit es weiterlaufen kann,
um nur zwei Beispiele zu nennen.

Hier spielen dann auch noch die Themen „Kompetenzen haben und erwerben dürfen“ und „Entwicklungsthemen und -Aufgaben nicht ernst nehmen bzw. wegnehmen“ mit hinein.
Hier kann eine ungefragte Hilfe Kinder auch noch beim Bewältigen von Entwicklungsaufgaben behindern.

Das Thema „Helfen“ ist ein sehr komplexes Thema und lässt sich auch nicht abschließend in einem kurzen Artikel beschreiben.

Ich wünsche Ihnen, dass es Ihnen gelingt, in den Dialog zu gehen und besonders bei der Begleitung von Kindern Hilfe zur Selbsthilfe anzubieten.

Falls Sie das Thema von mir begleitet reflektieren und in Ihrer Pädagogik tiefer verankern wollen, melden Sie sich gerne und wir schauen dann gemeinsam, was Sie brauchen und wie ich Sie unterstützen kann.
Herzlichst
Ihre Kerstin Müller 😊