Kinder brauchen Erwachsene, die sie individuell begleiten und sie in ihren individuellen Lernprozessen unterstützen und begleiten.

Hier an dieser Stelle möchte ich auf Menschen aufmerksam machen, die nicht der „Norm“ entsprechen und trotzdem ihre Ziele erreicht haben – weil sie als Kind individuell begleitet und auch an ihren Lern und Bildungsprozessen beteiligt wurden.

 

Felix Klieser ist ein berühmter Hornist. Er lebt ein selbstbestimmtes Leben und reist auch zu seinen Auftritten meistens alleine. Das Besondere an ihm: Er kam ohne Arme auf die Welt. Als Kind hatte er den Wunsch, Horn zu spielen, und ließ sich nicht auf andere Instrumente „herunterhandeln“. Hätten seine Eltern und auch sein Hornlehrer ihn nicht unterstützt und mit ihm gemeinsam Wege gefunden, wie er das Horn spielt – er spielt es mit den Füßen –, könnte er heute nicht das Leben leben, das er führt. Ich denke, ich gehe richtig in der Annahme, dass der Hornlehrer sich, bevor er Felix kennen gelernt hat, keine Gedanken darüber gemacht hatte, ob es möglich sein könnte, das Horn auch mit den Füßen zu spielen. Und auch kein didaktischer Lehrplan vorlag, wie er einem Kind Hornspielen mit den Füßen beibringen könnte.

Chris Nikic wurde mit Trisomie 21 geboren. Er konnte erst mit 4 Jahren frei laufen – dazu waren auch einige Operationen notwendig. Dieses Jahr ist er zum Ironman angetreten und hat die gesamte Strecke absolviert. Eines meiner Lieblingszitate von ihm lautet: „Das größte Problem ist, dass die Leute denken, wenn man länger braucht, kann man es nicht“. Aber auch er hätte es nicht ohne die Begleitung von Bezugspersonen geschafft, die ihm die gleichen Chancen einräumen wie Kindern, denen es leichter fällt sich an die Kategorie „normal“ anzupassen. Sein Vater unterstützt ihn auch damit, dass er dessen Trainer darauf hinwies, dass er seinem „Sohn die gleichen Chancen zum Scheitern geben muss wie allen anderen auch“.

Das sind nur zwei Beispiele, wie Inklusion gelingen kann. Gemeinsam – entdeckendes Lernen, sich auf die grüne Wiese wagen und auch immer die Möglichkeit zu scheiten einzuräumen.

Was braucht es dazu?
Im Grunde erst einmal nicht viel:
* Die Bereitschaft, Althergebrachtes zu hinterfragen, ist sehr hilfreich.
* Die eigenen Barrieren im Kopf anerkennen und sich darauf einlassen, sie zu überwinden.
* Im Dialog mit dem Kind und auch den anderen Kindern Wege zu finden, wie etwas gehen könnte.
* Sich frei machen von der Haltung „Der Erwachsene muss es wissen und bringt es den Kindern bei“.
* Folgende Sätze sind hilfreich: „Wie willst du es machen?“ oder „Wie kannst du es machen? Zeig es mir.“

Insgesamt bedeutet gelebte Inklusion auch gelebte Partizipation: Kinder an Prozessen und Abläufen sowie an Lern- und Bildungsgelegenheiten beteiligen und im Dialog genau die Wege zu finden, wie etwas gehen kann.

Viele Kinder passen heute nicht mehr in die Kategorie „normal“. Vielleicht weil wir die Kategorie nicht mit dem gesellschaftlichen Wandel angepasst haben, vielleicht aber auch, weil die Autobahnen der Kinder immer individueller werden und anschlussfähige Bildung fordern.

Gerade in Zeiten von Corona fällt mir auf, dass es Erwachsene gibt, die die Kinder weiterhin gerne beteiligen, auch wenn der Rahmen sich sehr verkleinert hat und Partizipation nur noch im kleinen Rahmen möglich ist.

Auf der anderen Seite gibt es aber auch viele Erwachsene, die in „(ver)altete“ Muster verfallen und wieder vermehrt mit „alten“ Techniken begleiten. So zum Beispiel, dass alle zur gleichen Zeit das gleiche machen sollen/müssen, wie alle gleichzeitig in die Garderobe zum Anziehen, alle warten bis der letzte fertig ist und alle gehen gleichzeitig in den Garten. In solchen Mustern gilt wieder „Alle müssen sich dem ‚Normal‘ anpassen – keiner darf in seinem Tempo lernen und sich entwickeln“. Dann ist es kaum möglich, gelebte Inklusion umzusetzen.

Ein positives Beispiel für gelebte Inklusion und Partizipation ist es, mit den Kindern gemeinsam zu überlegen, wie es gehen kann, dass alle Kinder, die mögen, möglichst viel Zeit im Garten verbringen können. Wer könnte wo helfen? Wer könnte welche Aufgaben übernehmen? Wer kann schon mal vorgehen? Wer hilft noch im Gruppenraum mit? Ist es möglich, dass sich einige Kinder im Gruppenraum anziehen, wo es ruhiger ist? Könnten einige Kinder mit einem Erwachsenen schon mal in den Garten gehen und Spielmaterial aus der Hütte räumen (und später wieder in die Hütte, wenn die anderen schon mal rein gehen)?

Für mich ist es jetzt Zeit, wieder einmal die Fahnen hoch zu halten und darauf aufmerksam zu machen, dass auch in Zeiten von Corona eine inklusive Haltung möglich ist.

Wer auf dem Weg zur Inklusion ist, kann seine Haltung jeden Tag ein bisschen weiterentwickeln.

Ich persönlich finde, dass es sich immer lohnt, Kinder in ihren individuellen Lern- und Bildungszielen zu begleiten. So ist der Grundstein für ein selbstbestimmtes Erwachsenenleben gelegt. Und bei den meisten Kindern ist es oft nicht ganz so ersichtlich, wie bei Felix und Chris, dass es individuelle Voraussetzungen und Lern- und Bildungsziele gibt. Trotzdem sind sie immer da, bei jedem Kind.

Und ganz wichtig: Eine Inklusive Haltung beinhaltet auch, dass Sie für sich selbst sorgen: Sie entwickeln sich weiter. Mit jedem Kind ein Stückchen mehr. Aber auch hier gilt: Sie entwickeln sich in ihrem Tempo und oft mit „Learning by doing“, nämlich dann, wenn die Kinder mit individuellen Lern- und Bildungszielen zu Ihnen kommen.

Ich habe mir über die Jahre angewöhnt, meine Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen in dieser inklusiven Haltung zu gestalten.

Das bedeutet für Sie:
* Auch Sie können in der Veranstaltung Ihre individuellen Fragen und Erfahrungen zum Thema einbringen.
* Wir können gemeinsam überlegen, welche neuen Wege Sie mit Ihrer aktuellen Kindergruppe gehen könn(t)en.
* Auch Ihre individuellen Lernvoraussetzungen können berücksichtigt werden, z.B. wenn Sie ein Bandscheibenvorfall hatten und Sitzen Ihnen gar nicht bekommt, finden wir einen Weg, wie Sie entspannt und schmerzfrei dabei sein können.

Herzliche Grüße, passen Sie auf sich auf und bleiben Sie gesund!
Ihre Kerstin Müller