Dieses Modell vergleicht das Lernen mit dem Bau von Straßennetzwerken. Es wurde von Neurowissenschaftler*innen erdacht und eignet sich aus meiner Sicht sehr gut um zu verdeutlichen, was im menschlichen Gehirn bei Lernprozessen passiert.

 

Am Anfang ist noch viel „grüne Wiese“, also viel Potenzial Wege und Straßen zu bauen. Jede (Lern-)Erfahrung wirkt wie eine Spur auf der Wiese. Wird die gleiche Erfahrung öfter wiederholt, entwickelt sich die Spur zu einem Trampelpfad, dann zu einem Weg, einer geteerten Straße und schließlich zur Autobahn. Nicht jede (Lern-)Erfahrung hat das Potenzial zur Autobahn zu werden. Hierzu muss die Lernerfahrung bedeutsam sein und genügend Wiederholungen möglich sein. Ganz wichtig sind auch Pausen und Erholung zwischendurch. Kein Mensch kann den ganzen Tag an verschiedenen „Autobahnbaustellen“ arbeiten, genauso wenig, wie ein Autofahrer die gesamte Fahrstrecke auf der Autobahn, z.B. von Bayern an die Ostsee durch Baustellen fahren will und kann, das ist sehr anstrengend.

Ist bereits eine Straße da, nimmt das Gedanken- oder Handlungsauto immer erst die vorhandene Straße, bevor es beginnt eine neue Straße zu bauen. Führt die Straße also halbwegs in die richtige Richtung wird sie benutzt. Das ist auch der Grund, warum sich der Mensch, egal ob groß oder klein, mitunter etwas schwer tut, wenn es um ein Umlernen geht. „Gestern haben wir es noch so gemacht. Heute ist es so.“ Oder „Zuhause ist es so, in der Kita ist es so“. Trotzdem ist Umlernen möglich und Kinder sind hier meistens sehr aufgeschlossen und bauen „schnell“ neue Straßen. Es braucht in der Regel Zeit und Begleitung. Daneben hilft auch Verständnis dafür, wenn aus Versehen doch die „alte“ Autobahn benutzt wird.

Das Bildungsangebot der Kita nutzen die Kinder zunächst mit ihren bestehenden Straßensystemen und erweitern sie Stück für Stück. So lernt jedes Kind jeden Tag etwas Neues dazu. Aufgrund der unterschiedlichen Vorerfahrungen, unterscheiden sich die Lernerfahrungen der Kinder, auch wenn die Tätigkeit oder das pädagogische Angebot das gleiche ist.

Hier steckt auch die Herausforderung:
Die Kita ist die erste Institution des Bildungssystem. Eine Aufgabe ist es also auch, die Kinder im Aufbau von Autobahnen zu unterstützten, die ihnen im gesamten Bildungssystem dienlich sind. Je nach Vorerfahrungen in der Herkunftsfamilie der Kinder, bringen sie hier schon Wege und Straßen mit oder ganz viel grüne Wiese.

Durch klare Strukturen einerseits, die Routinen und Rituale beinhalten und liebevolle, achtsame und geduldige Begleitung durch das pädagogische Personal andererseits ermöglichen es den Kindern diese Autobahnen aufzubauen.

Leichter gelingt diese Begleitung, wenn
* sich das Team einig ist: „Wie machen wir es?“
* wenn die Rahmenbedingungen relativ stabil sind und sich nicht zu häufig und zu schnell ändern.
* Kinder genügend Zeit gelassen wird die Straßen zu bauen – So ein Autobahnbau braucht Zeit.
* im Tagesablauf immer wieder Routinen und Rituale eingebaut sind, also „fertige“ Autobahnteilstücke vom Kind selbständig benutzt werden können.
* genügend Ruhephasen und Erholungsphasen eingebaut sind.
* der Tag mit Spaß, Freude und Begeisterung gefüllt ist.

Pädagogisches Personal leistet jeden Tag einen sehr wichtigen Beitrag für den Aufbau von bildungssystemrelevanten Autobahnen bei den ihnen anvertrauten Kindern. Vieles geschieht mit spielerischem Charakter und macht Kindern wie Erwachsenen Spaß und Freude. Das ist auch wichtig für den nachhaltigen Bau der Bildungsautobahnen. Das pädagogische Personal hat dabei noch die unterschiedlichen Bildungsbereiche, wie sie beispielsweise in den Bildungsplänen verankert sind im Blick, und lässt sie ganz natürlich in den Kita-Alltag einfließen.

Um Kindern Sicherheit und Verlässlichkeit in der Begleitung bei ihrem Autobahnbau zu geben braucht es auch einen sicheren Rahmen für die Kitas und deren pädagogisches Personal.

In der aktuellen Zeit, in der von heute auf morgen alles anders war und der Weg zurück in die Normalität oder in eine „neue“ Normalität mehr Herausforderungen mit sich bringt als gewohnte Autobahnen, braucht es für alle Erholungsinseln.
* Gönnen Sie also sich und den Kindern möglichst viele Ruheinseln in Form von Ritualen.
* Haben Sie ganz viel Spaß zusammen – Spaß ist der beste Stresskiller, den es gibt.
* Und haben Sie Verständnis für sich, die Kolleg*inne, Eltern und Kinder, wenn die Autos auf der Wiese langsamer vorankommen, „alte“ Autobahnteilstücke bedient werden oder das Gedanken-/Handlungsauto ins Schlingern kommt.

Alles ist schwer, bevor es leicht wird. Nehmen Sie Tempo raus und fahren Sie ein bisschen langsamer, das stärkt auch die Resilienz von Ihnen und den Kindern.

Herzliche Grüße, passen Sie auf sich auf und bleiben Sie gesund!
Ihre Kerstin Müller